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AutorenbildChristian Grimm

zum 160.Geburtstag von Camille Claudel



Camille Claudel, fotografiert von Cesar, 1884

In meinem Erzählband "Zeitensprünge" (Nordstern Musik und Literaturverlag, Leipzig 2011) treffen Persönlichkeiten aufeinander, die zu verschiedenen Zeiten gelebt haben. Zum 160. Geburtstag der Bildhauerin Camille Claudel stelle ich hier in meinen Blog die kurze Erzählung "Camille modelliert Mozart"


1

Ein Gespräch wollte zunächst nicht in Gang kommen. Wolfgang versuchte es mit blöden Scherzen, gab bald auf, kapitulierte vor ihren schweren, schwarzen Augen. Mein Gott, soviel Tiefe, dachte er, auf Dauer brächte mich das um. Sie sieht ihn, unruhig auf dem Stuhl herumhampeln, seine Flatterfinger auf dem Tisch. Mein Gott, denkt sie, diese Nervosität und diese Oberflächlichkeit. Ich könnte ihn nicht ertragen.

Aber dann geht er hinüber ans Klavier und spielt eine Folge von Tönen. Einfach, klar. Thema für meine nächste Sonate, A-Moll. Hören Sie. A- Moll, wähl ich selten. Aber zur Zeit... Will aufstehen. Bleiben Sie, sagt sie, und holt ihren Skizzenblock, fängt an zu zeichnen. Ziemlich große Nase, sagt sie nach einer Weile. Und er kann es sich nicht verkneifen und sagt: Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes. Und sie lacht und meint: Kann schon sein. Aber das hier wird ein Porträt, keine Aktzeichnung. Nicht gleich bei der ersten Begegnung. Aber ein ander Mal. Warum nicht? Wär doch mal was anderes. Ein Genie nicht im Profil, wie aus einer Gemme geschnitten, sondern einen nackten, geschundenen Mozart. Auf dem Einband der Sonatinen für höhere Töchter! Da lacht er und meint: Wär echt ein schöner Einband: der große Johannes vom kleinen Wolferl. Er spielt wieder, und sie skizziert. So was besonderes ist Ihr Kopf nicht auf den ersten Blick. Hatte schon markantere Charakterköpfe vor mir. Kopf, sagt er, Schopf, in den Topf. Alle alten Zöpfe müssen in die Töpfe, hahaha. Hab schon gehört, sagt sie, dass Sie recht kindisch sein können. Ist nicht kindisch. Alte Zöpfe abschneiden, gepuderte Perücken auf den Müll werfen, das ist nicht kindisch. Das ist revolutionär und gefährlich.

 

 

 

2

Um zurückzukehren, sagt sie, musst du erst fortgehen. Fortgehen und Zurückkehren, das ist nicht dasselbe wie Zuhausebleiben. Wir müssen alle fortgehen. Zurückkehren, Heimkommen, das ist nicht allen vergönnt. Man kann sterben in der Fremde. Die meisten sterben in der Fremde. Er sieht sie an, wie sie das so sagt, an seinem Kopf arbeitend, wie sie das so sagt, ohne von ihrem Tun aufzublicken. Da sagt er in die Stille des Ateliers hinein, nur draußen gurrt eine Taube hinter den blinden Fenstern, sagt er: Lass uns gemeinsam sterben! Ich lebe ohnedies nicht lange. Und bin in der Fremde. Du bist in der Fremde, bist außer dir, Rodin ist deine Fremde, dein Irrgarten, verlass ihn, komm mit mir! Sie schaut ihn an mit ihren unvergesslich schweren Augenlidern, weich der Mund, wohin, fragt sie, wohin mit dir? Vielleicht nach Salzburg, wo Colloredo auf dich wartet und sein Küchenmeister? Er schüttelt den Kopf, nein, nein, natürlich nicht. Drum sag ich ja, miteinander sterben, nicht miteinander leben. Hier in den nachtdunklen Winkeln deines Ateliers, wo unter den Balken die Spinnen wohnen, wo sich Seufzer, Träume, Töne verstecken, wo Himmel und Erde zu unsagbarem Staub verschmelzen, dort, wo selbst deine uferlosen Lippen enden, in dieser dunklen Ferne zu Ende gehen.

Ich versteh dich nicht, sagt sie. Du schreibst eine Musik, wie sie noch keiner geschrieben hat, keiner mehr schreiben wird und bist so schwer, so ausweglos, so schwer wie überschwemmtes und wieder freigegebenes Land, so porenlos verzweifelt. Wie geht das zusammen mit deiner Musik?

Er sieht ihren Mund, ihre Augen und sagt: Dein weicher Mund, den ich fühlen möchte, das Warme, Weiche, Stille, Feuchte deines Mundes. Dein Mund ist die Antwort auf deine Frage. Fang ja nicht an zu kokettieren, sagt sie erschreckt, bedauert diese Worte sogleich, da sie seine rastlos verirrten Blicke bemerkt. Dein Mund, sagt er ohne ihren Einwand wahrgenommen zu haben, dein Mund. Weißt du, meine Musik ist gut, ist Qualität, nahe am Absoluten, das streit ich gar nicht ab, aber dein Mund ist noch viel näher dran. Oase in der Wüste, Stern im Dunkel, Bernstein im Sand, Muschel im Meer, dunkle Sonne aufsteigend aus Nebeltälern, Windgesang, Waldwiese, Weltenrand...

Wehrlos wird sie unter diesen Worten. Und dann geht er auch noch ans Klavier. D-Moll, sagt er, Dein Mund.

 

3

Es ist kalt im Atelier, zugig, immer zieht es hier, oben die Fenster, zwei Scheiben sind zerbrochen seit langem, und die Tür schließt schlecht. Regen draußen und Wind aus Nordwesten, ungehindert vom Kanal herunter. Wir holen uns hier noch den Tod, sagt Mozart, komm lass uns gehen! Gern, sagt sie und legt die Spachtel hin, gehen wir. Sie wäscht sich die Hände, dann gehen sie hinüber zu Francis. Zwei Pastis, zwei kleine Rote, dann noch mal zwei. Mozart hat noch Geld. Puchberg hat welches geschickt. Ihre Hände liegen vor ihm, rotumringt die Knöchel. Müde, schöne Hände. Jetzt umfasst sie das Rotweinglas, beidhändig, wie der Priester den Kelch, nimm mich doch so in die Hände. Sie lächelt, weiß, was er denkt. Ja, sagt sie dann, ich nehm dich so in die Hände, in die Arme, irgendwann einmal.

 

 

4

Sie fahren hinaus aufs Land. Die Gerste reift. Früh, heuer. Sie verlassen den Zug, der wegstampft, weiterdampft Richtung Deauville. Wind, Lichtbogen, Eichenwald, wer umarmt wen? Das Licht den Wind, der Wind das Licht? Mohn, Mohn und Pappeln, den leichten Hang hinab, am Himmel eine Partitur aus weißen Wolken, die vorübereilen, ihren Schatten nach, Lerchen dazwischen.

Ein kleiner See, Kiesränder, weißrunde, quarzrosa, zahngelbe, marmorrote Kiesel in Ockererde verbacken, über der Kante Getreide, goldschimmernde Gerste, bis an den Rand des Sees, offen, Sonne. Auf der anderen Seite Pappeln, Gras, grünes Licht. Hier bleiben sie. Camille breitet das Tuch aus, in die Mitte kommen das Brot und der Camembert, dazu die schwarzroten Trauben und eine Flasche dunklen Burgunders, zwei Gläser, die Teller.

 

Lichtschleppen. Zwei Stockenten, Silberfäden vom Federbug. Lichtklänge. Mozart legt den Kopf, perückenlos, ein wenig ins Rostrot spielendes Haar, in ihren Schoß. Sie schaut hinaus auf den See.

 

Sie hatte sich vervielfältigt, war mehrfach geborsten an Rodins Klippen und zwei-, vier-, acht- und mehrfach geteilt weitergeflogen, zerfleddert, zerrauft, nach vielen Seiten strebend, die eigene Mitte verloren. Alles strebte auseinander. Sie fand nicht mehr zu sich selbst. Mehr noch als bei Mozart war auch bei ihr die Frage: wer nimmt dies alles in den Arm? Wer fügt das alles wieder zusammen, zu einem Ganzen mit einer Mitte. Mozart war dazu nicht in der Lage. Müsste selbst nach Hause. Mutter stirbt. Handhalten der Frau Mutter. Und die A-Moll Sonate wartet. Camille streicht sein Haar. In die Hände nehmen, denkt sie, vielleicht ist es das, was Halt gibt, dem, der den andern hält.

Mozart sagt: Lass uns fortgehen. Wind flirrt in den Pappeln.

 

Eines beschäftigt mich, wenn ich so da sitze und Mutter sterben sehe. Manchmal erkennt sie mich noch, spricht sehr klar, „pass auf das Nannerl auf“, sagt sie dann, „und folg deinem Herrn Vatter. Gewiss“, meint sie dann, „ist er manchmal arg streng mit dir, aber er meint es nicht bös.“ Und dann geht wieder alles durcheinander: Traum, Realität, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dann denk ich mir, dies ist jetzt schon der Beginn, wo die Zeit, wie wir sie kennen, keine Rolle mehr spielt.

Auch mein Vater, sagt Camille, sprach, bevor er starb, mit längst verstorbenen Freunden. Mit staunend großen Augen sah er sie im Zimmer stehen. Aus den Schränken kamen sie, durch Wände gingen sie. Manche begrüßte er wie Heimkehrer nach langer Zeit der Trennung, manche so, als habe man sich gestern noch gesehen. Wieder andere lächelte er nur an. Auch bei ihm war Zeit schon nicht mehr da. Aber das war es gar nicht, was mich wunderte. Verlust der Zeit, mein Gott, vielleicht ist dies nur die Fehlleistung eines altersschwachen Gehirns. Was mich viel mehr bewegte, war die Frage: Wo geht sein Geist hin, wohin seine Güte und seine Liebe. Und das war nicht nur philosophisch gedacht. Nein, ich hatte Angst, ihn zu verlieren. Ich ahnte schon, was mir blühen würde, als Vater starb. Seine Güte war mein Lebensgrund.

Pappeln, Wind.

Sag mir, Mozart, wo gehen wir hin? Ihre Frage hieß: was sollen wir tun, aber auch: wo werden unsere Wege enden?

Ich weiß es nicht, sagt er. Bin einfach da und komponier und weiß nicht, warum ich da bin, und frag auch nicht danach. Frag nicht, woher und nicht wohin. Bin einfach da und mach meine Musik. Er rupft Gras aus neben der Decke, gelben Klee, zupft die Blätter vom Stiel und bläst sie in den Wind.

Und mach den Affen, um leben zu können. Und das, meine Liebe, ist in der Tat eine böse Sach. Warten, stundenlang, irgendwo in einer Abstellkammer, bis es den hohen Herrschaften wieder einfällt: da draußen sitzt doch einer, irgendwo zwischen Küche und Stall, Mozart oder wie er heißt, holt dich dann so ein lackierter Hofschranz, dann darfst spielen auf einem klapprigen, verstaubten, verstimmten Scheißklavier, und keiner hört zu und irgendwann winkt einer ab und du kannst gehen, kriegst ein Kompliment oder eine Uhr, davon hab ich jetzt schon siebzehn Stück.

Ja, meint Camille, wir sollten gehen, uns das Irrenhaus ersparen und den Tod in Wien, den Regen und das Armengrab.

Sie legt sich auf den Rücken, verschränkt die Hände unter dem Kopf, schaut durchs silbergrüne Pappelnetz. Manchmal, sagt sie, fühl ich tief in mir eine abgrundtiefe Enttäuschung. Ich glaube, er liebt mich nicht wirklich. Nicht so, wie ich es ersehne. Er ist so oft abwesend. Nur körperlich da. Manchmal möchte ich sterben, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Er liebt vielleicht meine Jugend, mein Aussehen, meinen Körper, aber liebt er mich? Ich fühle mich total verlassen. Sie steht auf und streicht ihren Rock glatt, nimmt Mozart an der Hand, zieht ihn hoch und sie gehen die paar Schritte hinunter zum See, stehen nebeneinander und blicken hinaus. Es ist sehr still. Nach einer Weile bückt sich Mozart, nimmt einen ovalen, weißen Stein in die Hand, dreht ihn zwischen den Fingern und wirft ihn dann etwas ungeschickt und linkisch ins Wasser. Dort, wo er auftrifft, bildet sich ein Kreis, der sich immer weiter ausbreitend auf das Ufer zuläuft und vor ihren Füßen leise auf die Kiesel schwappt. Der dem Land abgewandte Teil des Kreises läuft weiter, verliert sich erst Augenblicke später draußen auf der silbernen Fläche. Nichts mehr. Keine Bewegung. Stille.

 

5

Die rue Daguerre sprüht vor Leben. Jetzt am späten Nachmittag sind die Läden wieder geöffnet. Hier an der Ecke, sagt Camille, gibt es die besten Baguette von ganz Paris. Und dort vorne, neben dem Käse- und Obstladen einen wunderbaren Kaffee. Zwei-, drei Mal schlendern sie die Straße hinauf und hinab, dann setzen sie sich unter die rote Markise des Café d´enfer.

Mozart legt eine Hand auf ihre Hand und meint: Mit der Liebe Rodins, mach dir da keine Gedanken! Natürlich liebt er deinen Körper, deine Jugend, deine Schönheit. Aber das ist doch nichts, was neben dir stünde. Das ist doch nichts, was man von dir ablösen könnte, ohne dich zu zerstören. Das bist doch im wesentlichen du! Da hätte ich an seiner Stelle schon eher meine Sorgen. So ein Adonis ist er ja auch wieder nicht und im Vergleich zu Dir ein alter Knacker. Der könnte sich eher fragen: liebt sie nun mich oder nur mein Können, meine Kunst. Sie schließt die Augen, genießt seine Hand auf ihrer Hand.

 

 

6

Mozarts Mutter ist gestorben. Haarklein schreibt er ihr Sterben dem Vater nach Salzburg. Dann vollendet er die E-Moll Sonate und das Oboenkonzert. Dann reist er ab, schweren Herzens, nach Salzburg will er noch nicht.

Camille allein in der rue Daguerre. Vor ein paar Tagen noch saß sie mit Mozart hier. Fühlte seine Hand auf ihrer Hand. Oder war das nur ein Traum gewesen? Er fehlt ihr.

Identitätsverlust, so ein modernes Wort. Identität, die platzt wie eine Luftblase. Die Stelle der Leere wird zum Tummelplatz ungezählter, unzählbarer Ereignisse, die aus der Vergangenheit heraufgreifen, Vater, Mutter, die Großeltern, die Nachbarn, die Freunde, Feinde, die Niederlagen, die kleinen Erfolge, Fremdes, das hereingreift, viel Fremdes, Randwirbel großer Ereignisse.... Das Ich - bei Mozart zusammengehalten durch die unversiegbar aus ihm herausquellende Musik- bei ihr zerfließt dieses Zentrum. Das Ich, es ist nur Illusion. Dieses Durcheinander, dieser Affentanz, dieser molekulare Irrsinn. Zuviel von außen! Sie sieht die Steine vor sich, die Kiesel am Seeufer, wo sie mit Mozart stand, wo er einen Stein ins Wasser geworfen, wo sich ein Kreis gebildet, ausgebreitet und sich verloren hatte am Ufer vor ihren Füßen und draußen auf der Silberfläche des Sees. So wird alles enden. Das Wasser wird ruhen, als wäre nie etwas geschehen.

Ist das wirklich so? Sie denkt an Mozarts Sonaten, an Rodins „Der Kuss“. Und ihre Werke? Wird all das verloren gehen? Werden all die Mühen, die Schmerzen umsonst gewesen sein?

Sie weiß es nicht. Diese großen Augen, diese schweren Lider, dieser volle Trauermund. Sie zahlt, geht Richtung Boulevard Raspail, an der Friedhofsmauer entlang. Sartre wird dort drüben einmal begraben liegen und Simone de Beauvoir. Als sie vor ein paar Tagen mit Mozart hier entlang geschlendert war, voller Trauer, voll stiller Verzweiflung, als sie noch einmal gesagt hatte „gehen wir“ und nicht genau gewusst hatte, was sie damit sagen wollte, da hatte er den Arm um sie gelegt, sie ein wenig geschüttelt und gesagt: Ja, gehen wir, ma chère amie, gehen wir an die Arbeit!

 

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